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Giulio G. Zumbo und seine grausigen Wachsmodelle

Giulio G. Zumbo, Präparat eines männlichen Kopfes, Wachsmodell, 1695, Museo di Storia Naturale (La Specola), Florenz. Aus: Petra Lamers-Schütze, Yvonne Havertz (Hg.), Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola Florence, Köln 1999, S. 19.
Giulio Gaetano Zumbo lebte im barocken Florenz und fertigte (zumeist) anatomisch korrekte Teile des menschlichen Körpers an (s. Abb. 1). Bereits ein Jahrhundert zuvor begannen medizinisch ausgebildete Männer wie der Flame Andreas Vesalius eigenhändig zu sezieren und somit der menschlichen Anatomie zum Teil sogar vor Publikum zu Leibe zu rücken. Vor der Renaissance war das Aufschneiden des Körpers Sache von niederen Schichten, zum Beispiel Badern. Wohingegen die Untersuchung, die Beschreibungen und medizinischen Erkenntnisse, die auf das Aufschneiden und sezieren folgten, Aufgabe der intellektuellen Mediziner war. Diese jedoch machten sich nicht an den Leichen zu schaffen. Die Medizin war also in zwei Klassen (der körperlich und der geistig arbeitenden) unterteilt.

Andreas Vesalius, De Humani Corporis Fabrica, Ausgabe im Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 53.682.

Doch mit der Renaissance und Männern wie Vesalius, der 1543 sein Hauptwerk "De Humani Corporis Fabrica" herausbrachte, in der sowohl Text als auch sehr anschaulich illustrierte Holzschnitte zum anatomischen Verständnis der Leser:innen beitragen sollen (s. Abb. 2), ändert sich diese strikte Trennung. Vesalius selbst präsentiert sich auf der Titelseite inmitten eines zahlreichen und gebildeten Publikums. Dabei seziert er selbst, er tritt also mit dem Leichnam in direkten Kontakt und doziert, hat also das intellektuelle, medizinische Wissen.

Zurück zu den Wachsmodellen Zumbos, die circa ein Jahrhundert später entstanden. Der Kopf, der oben zu sehen ist, zeigt sowohl Haut und Haar als auch Sehnen, Muskel und sogar das Gehirn (auf der Abbildung nicht zu sehen). Er diente wohl als Anschauungsobjekt, um die verschiedenen Schichten des Kopfes zu studieren.

Giulio G. Zumbo, Der Triumph der Zeit, Wachsmodell,  um 1687/1690, Museo di Storia Naturale (La Specola), Florenz. Aus: Petra Lamers-Schütze, Yvonne Havertz (Hg.), Encyclopaedia Anatomica. Museo La Specola Florence, Köln 1999, S. 92, 93.
Doch fertigte der Künstler neben solchen medizinischen Anschauungsobjekten auch panoramaartige Schaukästen aus Holz und Glas, wie auf der Abbildung oben zu sehen. In diesen 90 x 90 x 45 cm großen Kästen finden sich Wachsfiguren in Vollplastik, der Hintergrund dagegen ist flach gehalten und wie eine Theaterkulisse dahintergesetzt.

"Der Triumph der Zeit", wie das Wachsmodell oben heißt, zeigt jede erdenkliche Phase der Verwesung. Drei Figuren scheinen erst kürzlich verstorben zu sein: Die junge Frau rechts, das kleine Kind ganz vorn links und der auf dem Bauch liegende Mann ganz links im Mittelgrund des Modells. Alle sind noch von den Zeichen des Todes verschont und wirken wie im Schlaf.

Nun folgen im Verwesungsfortschritt das kleine Kind vorn rechts und die Gruppe der Männer ganz rechts am Rand im Mittelgrund. Ihre Körper sind noch als individuelle Menschen erkennbar, auch sind Teile ihrer Haut noch unversehrt, es brechen sich aber erste Zeichen des Faulens Bahn, die Haut wirkt aufgeplatzt. Die Glieder sind zum Teil verrenkt - was sie sogleich zu modernden Leichen macht.

Die dritte Stufe ist die des starken Faulens. Der liegende Mann, der sich frontal mittig im Modell befindet, zeigt Anzeichen dafür, dass sich die Haut vom Skelett löst und die Eingeweide bereits verrottet sind. Der Künstler hängt den Körper einmal frontal durch das Modell, der Betrachterin wird nichts erspart.

Die letzte Stufe findet sich dann im Skelett, das hinter den Kindern zu erkennen ist. 

Der wichtige Unterschied zum Wachskopf (Abb. 1) ist eine künstlerische und narrative Dimension, die das Schaukastenmodell mit seinen Figuren aufweist. Diese zeigt sich in den die Leichen umgebenden Gegenständen, Gebäuden und Menschen. 
Wichtig ist dabei der links im Modell sitzende lebenden, alten Mann. Sein grauer Bart und sein schütteres, graues Haar weisen ihn als Greis aus, sein muskulöser Körper spricht eine andere Sprache. An seinem Rücken ist ein großes Flügelpaar zu erkennen, seine linke Hand stützt sich auf eine Sense, seine rechte Hand weist in einer ausladenden Geste auf die Schreckensszenerie. Es handelt sich wohl um Kronos, einen Charakter aus der griechischen Mythologie, den Vater des Zeus. Jedoch scheint der Künstler nicht auf die bekannte Geschichte über Kronos, den Titanen, Sohn der Gaia zurückgegriffen zu haben, sondern auf die Überlieferung einiger griechischer Geschichtsschreiber, die den Namen mit dem Wort "chronos" für "Zeit" in Verbindung brachten und die Figur als alten Mann mit Sense beschrieben, wodurch er bei ihnen zu "Vater Zeit" wurde. Kronos´ Zeigegestus ruft die Betrachterin zum "memento mori!", zum Gedenken an die Endlichkeit des Lebens auf. Dieses Motiv des endlichen, menschlichen Lebens, dem auch der Vanitas-Gedanke und das berühmte "carpe diem!" (nutze den Tag) entstammen, war im Barock äußerst beliebt.
Neben Kronos sprechen auch die Krone und das Buch für die Vergänglichkeit individuellen Ruhms und Macht. Die Säulenfragmente als antike Artefakte, die sich vor allem im Mittelgrund verstreut und als ruinöses Konstrukt mit Architrav hinter Kronos befinden, der Kopf einer antiken, männlichen Statue ganz im Vordergrund, sowie die Hinweise auf Tempel und Pyramide im Hintergrund, stehen für die Nichtigkeit und den Niedergang großer, menschlicher Kulturen.

Das kleine Rundbild am rechten Fuß des Kronos ist als Symbol in seiner Aussage nicht gänzlich geklärt. Am wahrscheinlichsten ist die Möglichkeit, dass es sich um das Selbstporträt des Künstlers handelt, der selbst Geistlicher war, genau wie der Porträtierte. Damit würde Zumbo seine eigene Vergänglichkeit aufzeigen.

In Giulio Zumbos wächsernem Halbrelief vermischen sich auf einzigartige Weise einerseits ungeschönte naturalistische Aspekte, die den Betrachter schockieren und ekeln und andererseits sowohl mythologische und symbolische als auch ganz eindeutige Zeichen, Gegenstände und Personen, die im Sinne des memento mori warnend auf den Betrachter wirken sollen.

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